Ein großer Kolkrabe zog seine abendliche Runde.
Es wurde um diese Zeit im Jahr immer besonders früh dunkel. Doch in
vielen Vorgärten leuchteten Lichterketten an Tannenbäumen. Die
kleinen Lichter spendeten in ihrer schieren Menge immer noch genug
Licht, dass der Rabe eine vergessene Walnuss aus großer Höhe auf
den Asphalt fallen lassen konnte. Das polterte und knackte in
der klaren Abendluft, die schon ein wenig nach dem Nachtfrost roch.
Der Rabe flog zur Landung an, kam hüpfend vor der geplatzten Walnuss
zum Stehen und pickte genüsslich den saftigen Kern. Da schoss über
ihm aus dem klaren Himmel eine Sternschnuppe zu Boden. Erschrocken
machte der Rabe einen Satz nach oben. Die Sternschnuppe war direkt
neben ihm in den Straßengraben gekracht. Er wäre kein richtiger
Rabe, wenn er sich nach dem ersten Schreck nicht neugierig dem
Glimmen im Graben genähert hätte. Da saß ein Mädchen in einem
Ring aus verbranntem Wintergras. Sie war nicht sehr groß, der Rabe
hätte sie mit einem Picken seines Schnabels verschlingen können.
Doch sie strahlte in einer so zerbrechlichen Schönheit, dass dem
klugen Tier ganz warm um sein junges Herz wurde. Sie hob ihren blond
gelockten Kopf und mit genauso schwarzen Augen, wie er sie hatte,
blickte das Mädchen ihn unerschrocken an. Dann fragte sie mit einer
glockenhellen Stimme: „Bist du Horatio, mein treuer Rabe?“
Der Rabe schüttelte den Kopf. „Ne, hab keinen
Namen, Sternenmädchen. Hast du einen?“
„Ja, ich heiße Venus. Möchtest du Horatio
heißen?“
Der Rabe legte seinen Kopf schief, so, wie es nur
Vögel können, dann nickte er. Horatio spürte, dass etwas Magisches
mit ihm passierte, denn er fühlte sich jetzt plötzlich viel größer.
Venus kletterte aus dem Graben und dann auf seinen Rücken. Sie wog
so viel wie eine Rabenfeder. „Horatio, mein neuer Freund, ich habe
großen Hunger. Deswegen bin ich auf die Erde gekommen. Wir
Sternenkinder müssen in dieser Zeit unsere Energiereserven
auffrischen, um die Winternächte zu erhellen.“
„Was essen denn Sternenkinder? So etwas wie wir
Raben, etwa am Baum vergessene Äpfel?“
„Nein, Horatio, ich will etwas davon, das dort
so grün in dem laublosen Baum sitzt.“
„Bist du von Sinnen? Das sind Misteln! Die kann
man nicht essen, davon bekommt man starke Bauchschmerzen!“
„Was soll ich denn dann essen?“
„Ich weiß! Walnüsse!“
Horatio flog hoch, um noch eine der leckeren Nüsse
zu suchen. Während er so flog fragte er neugierig: „An welcher
Stelle des Himmels blinkst du denn?“
Venus lachte. „Ich blinke doch nicht! Wie kommst
du denn darauf?“
„Schau doch mal nach oben! Die Sterne funkeln zu
uns herab!“
„Ja, du hast Recht. Nur meine Brüder und ich
funkeln nicht. Wir strahlen in einem fort! Siehst du da oben? Das ist
Mars. Und da sehe ich den dicken Jupiter. Alle Sterne, die funkeln,
sind keine Sternenkinder, so wie wir, sondern Sternenmütter, die
Sonnen, die weit entfernt ihre eigenen Kinder hüten. Mein Platz ist
an zweiter Stelle um meine Sternenmutter.“
Horatio lauschte andächtig, so hatte er das noch
nie erklärt bekommen. Dann hatte er eine Walnuss gefunden und ließ
sie knacken. Venus probierte den Kern, doch sie spuckte ihn wieder
aus. „Nein, das mag ich ja gar nicht!“
„Dann probieren wir noch etwas anderes. Viel
gibt es jetzt im Winter nicht, doch ich weiß, wo noch Brombeeren
wachsen.“
So flog der Rabe zu einem Brombeerstrauch, doch
auch diese Beeren mochte das Sternenkind nicht. Horatio flog sie zu
einem Apfelbaum, doch auch die vergessenen Früchte mochte Venus
nicht. Sie probierte noch ein Hühnerei, das Horatio aus einem Stall
stibitzte, Grünkohl, Haselnüsse, ja sogar Gras und Tannennadeln bot
der Rabe seinem kleinen Passagier an. Doch jedes Mal sagte sie, es
würde ihr überhaupt nicht schmecken. Sie wurde immer blasser und
Horatio merkte, dass sie sich nicht mehr gut auf seinem Rücken
festhalten konnte. Er machte sich große Sorgen um seine neue
Freundin. Die Nacht ging schon fast zu Ende und die Sonne kündigte
sich mit einem Feuerwerk an roten Farben über dem Horizont an.
„Horatio, ich brauche jetzt etwas zu essen, ich
möchte nicht, dass meine Mutter mich so schwach hier unten auf der
Schwester Erde sieht. Gibt es noch etwas?“
Doch Horatio schüttelte den Kopf. „Nur noch
Menschenessen. Ein Brötchen, aus einer Bäckertüte vielleicht?“
Venus schüttelte sich. „Nein! Ich brauche etwas
mit Magie! Brötchen sind doch nicht mehr magisch!“
Da hatte Venus wohl Recht. Aber sosehr Horatio
auch überlegte, ihm fiel nichts mehr ein. Da leuchteten die ersten
Sonnenstrahlen über den Rand der Welt. Sie erfassten den hoch in der
Luft schwebenden Raben mit dem Sternenmädchen, das sich die Augen
zuhielt, damit sie nicht von der Mutter erkannt wurde. Doch die Sonne
konnte man nicht täuschen. Horatio bemerkte nur ein kleines Säuseln,
das die Luft um ihn herum sanft bewegte, doch auch er hörte die
mächtige Stimme der Sternenmutter: „Hast du noch gar nichts
gegessen, Venus? Muss ich dich denn jedes Mal daran erinnern, dass du
Mistelzweigbeeren essen musst?“
Horatio erschrak. Er hatte es dem Sternenmädchen
ausgeredet, zu einem Mistelzweig zu fliegen!
Sofort schoss er los und suchte einen Baum, an dem
die grünen Zweige saßen. Matt ließ sich Venus auf den Ast sinken
und Horatio selbst pflückte eine Beere mit seinem Schnabel und
fütterte das Sternenkind so, wie seine Rabenmutter es mit ihm
gemacht hatte. Er drückte ihr den Beerensaft in den Mund. Sofort
fing Venus an zu trinken. Sie hatte einen wirklich gewaltigen Hunger.
Horatio flog sie noch zu zwei anderen Bäumen mit Mistelzweigen. Als
Venus satt war, leuchtete sie in einem überirdisch silbrigen Glanz.
„Jetzt kann ich wieder zu meinen Brüdern
zurückkehren. Vielen Dank, Horatio.“
„Ach, Venus, ich habe doch einen Fehler gemacht!
Du hättest sofort zu einem Mistelzweig geflogen werden müssen! Und
ich hab es dir ausgeredet! Fast wäre es für dich zu spät gewesen!
Es tut mir so leid!“
„Aber es war nicht ganz zu spät. Wir haben doch
noch rechtzeitig die Kurve genommen und dass ist viel besser, als
wenn es überhaupt nicht geklappt hätte. Ganz bestimmt.“
Sanft berührte Venus ihren schwarz gefiederten
Freund zum Abschied. Dann schoss sie mit einem silbrigen Glühen in
den Himmel. Dort, wo das Sternenkind den Raben berührt hatte, wuchs
nun eine silberne Feder. Wenn ihr, liebe Leser, einen Raben mit einer
silbernen Feder entdeckt, dann erinnert euch daran, dass es manchmal
gut ist, etwas zu tun, bevor es ganz zu spät ist.
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